Die Verkehrspolitik in Europa allgemein und in der Schweiz im Besonderen wird
seit rund einem Vierteljahrhundert von einigen grossen Trends bestimmt:
- Stetige Zunahme des Verkehrs
Für die Europäische Union EU ist der ist der freie Warenverkehr fast noch
mehr als der freie Personenverkehr seit ihrer Gründung als Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vor einem halben Jahrhundert ein Eckpfeiler
ihrer Integrationspolitik. Historisch betrachtet ist die zunehmende
wirtschaftliche Verflechtung und die daraus resultierende Unmöglichkeit,
als Nationalstaat ohne Produkte aus anderen Ländern wirtschaftlich zu
überleben ein wichtiger Beitrag zur Friedenserhaltung in Europa.
Zudem hat der freie Warenverkehr langfristig für den Ausgleich des
Wohlstandsgefälles innerhalb Europas gesorgt. Nach jeder Erweiterungsrunde
der EU haben neue Mitgliedstaaten durch die Integration in den gemeinsamen
Markt starke Wachstumsimpulse erhalten. Der europäische Binnenmarkt
hat heute eine zentrale Bedeutung, selbst wenn dies im Alltag nicht immer
so deutlich wahrgenommen wird und Importgüter aus Fernost vermeintlich
eine heraus ragende Stellung einnehmen.
Selbst die Schweiz als Nicht-Mitglied der EU wickelt heute mehr als drei
Viertel ihres Aussenhandels mit EU-Staaten ab.
Auch im inländischen Personenverkehr ist ein starker Zuwachs feststellbar:
Noch anfangs der 1970-er Jahre wohnten die meisten Arbeitnehmenden in der
Nähe ihres Arbeitsplatzes, heute ist das Verhältnis umgekehrt. Aber auch
die Freizeitmobilität hat massiv zugenommen.
- Verlagerungspolitik
So positiv sich der freie Warenverkehr für die wirtschaftliche und
politische Integration in Europa auswirkt, so problematisch sind die
Folgen für die Umwelt. Mit der Zunahme der alpenquerenden Transporte
ist auch der Ausstoss an Schadstoffen und damit die Belastung der
empfindlichen Oekosysteme dramatisch angestiegen. Die Auswirkungen
sind aber nur langfristig spürbar und die dadurch enstehenden Kosten
fallen vor allem nicht direkt bei den Verursachern an. Deshalb versagt
der Markt und die Politik müsste mit Lenkungsmassnahmen eingreifen.
In der Schweiz wurde dies schon vor Jahren erkannt und die Bevölkerung
hat mit der Annahme der
(Alpeninitiative)
eine spürbare Verlagerung des Verkehrs von der Strasse auf die Schiene
als Ziel auf Verfassungsstufe angenommen.
Die praktische Umsetzung stösst allerdings auf erhebliche
Schwierigkeiten und das Verlagerungsziel kann mit den bisher getroffenen
Massnahmen nicht erreicht werden.
- Freier Netzzugang (Free Access)
Mit den EU-Richtlinien 95/18 und 95/19, die aufgrund des bilateralen
Verkehrsabkommens auch für die Schweiz gelten, wird bestimmt, dass
Eisenbahnunternehmen ihr Netz auch für Züge von anderen Bahngesellschaften
öffnen. Dazu gehört auch eine minimale Trennung der Infrastruktur und
ihrem Betrieb von
- Bahnreform
Wie so oft hat sich die Schweiz auch in diesem Bereich als europäischer
Musterschüler erwiesen. Mit der Bahnreform wurde die Richtlinie gründlich
umgesetzt, wenn auch Bewährtes nicht unnötig aufgegeben wurde:
Die SBB ist seither in drei Divisionen Infrastruktur, Personenverkehr und
Güterverkehr aufgeteilt, die ihre Finanzen klar voneinander abgrenzen.
Die Geschäftseinheit "Trassen-Management" der Division
Infrastruktur stellt den diskriminierungsfreien Zugang zum Schienennetz
auch für fremde Eisenbahn-Verkehrs-Unternehmen (EVU) sicher.
Für die Zuteilung von Trassen (Beützungsrechten für das Schienennetz zu
einem bestimmten Zeitpunkt) gelten klare, gesetzlich vorgegebene Spielregeln.
Diese bestimmen unter anderem, dass ein Grundangebot des öffentlichen
Personenverkehrs zu fixen Zeiten (Taktfahrplan) vor dem Güterverkehr
Vorrang hat. Darüber hinaus gehende Trassen werden aber im Wesentlichen
nach dem Prinzip "wer zuerst kommt (anfragt), fährt zuerst"
zugeteilt.
Trotzdem darf nicht übersehen werden, dass die Eisenbahn ein hoch
komplexes System ist, das nicht ohne gravierende Probleme vollständig
in Einzelteile aufgeteilt werden kann. Dies zu betonen wird SBB-Chef
Andreas Meyer so wenig müde wie sein Vorgänger Benedikt Weibel.
Die wichtigsten Argumente hat Weibel in einem Referat zum 100-jährigen
Jubliläum der SBB zusammengefasst:
Die SBB - die integrierte Bahn für die Zukunft
(pdf, 102 kB)
Ein in der Sonntagszeitung vom 14.10.2001 veröffentlichtes
Positionspapier des Wirtschaftsverbandes economiesuisse zur Bahnreform II
wurde vom sonst nicht gerade als wirtschaftsfeindlich bekannten Präsidenten
des SBB-Verwaltungsrates, Thierry Lalive d'Epinay, in einem Interview
mit ungewöhnlich harten Worten zurück gewiesen:
- "ideologisch verbrämte Behauptungen"
- "unausgegorenen Lehrbuchweisheiten"
- "pseudo-unternehmerische Grundhaltung"
Fazit von Lalive d'Epinay:
"Jedes Unternehmen würde kaputt gehen, wenn man es so
führen würde, wie dieser Bericht es vorschlägt."
Leider sind sowohl das Positionspapier wie auch das Interview
nicht mehr online.
- (Teil-) Privatisierung
Die hohen Investitionskosten für die Eisenbahninfrastruktur stehen dem durch
einen ruinösen Steuerwettbewerb zwischen den Staaten verursachten chronischen
Geldmangel in den Staatskassen gegenüber. Mit dem Scheitern des Kommunismus
in der Sowjetunion und Osteuropa kam gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein
fataler Trend auf, den relativen Erfolg des westlichen Systems einseitig dem
marktwirtschaftlichen System zuzuschreiben.
Dabei lassen die Vertreter des Neo-Liberalismus ausser Acht, dass das westliche
System seinen Erfolg mitnichten der konsequenten Umsetzung rein marktwirtschaftlicher
Prinzipien verdankt, sondern mindestens ebenso sehr der erfolgreichen Eindämmung
seiner schlimmsten Auswüchse durch demokratische Kontrolle. Während des Kalten Krieges
waren die Vertreter der Wirtschaft aus Angst vor einer kommunistischen Revolution
zudem bereit, in vielen Punkten Kompromisse einzugehen.
Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus haben sich auch die politischen Gewichte
in Westeuropa verschoben. Man traut dem Staat und Unternehmen im Staatsbesitz
deutlich weniger zu, effizient und erfolgreich zu wirtschaften. Probleme der
meist grossen Staatsunternehmen (Eisenbahnen, Post) werden dabei selten als
grundsätzliche Strukturprobleme wahrgenommen, sondern vorschnell einem angeblichen
Hang des Staates zur Bürokratie und der oft unterstellten Faulheit der Beamten
zugeschrieben. Ausser Betracht bleibt dabei, dass Manager staatlicher Unternehmen
weniger der Versuchung erliegen, kurzfristige Einsparungen durch weitaus grössere
langfristige Nachteile zu erkaufen.
Das Mass an Bürokratie wächst auch in der
Privatwirtschaft mit der Unternehmensgrösse überproportional - anders sind grosse
Organisationen gar nicht führbar. Jeder, der
in grossen Konzernen gearbeitet hat, kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen.
Diese Erkenntnis ist im übrigen auch keineswegs neu, der bekannte Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftler Max Weber hat sie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert.
Erstaunen kann dies nur Leute, die Ökonomie mehr
als Religionsersatz denn als Wissenschaft betrachten und lieber gedankenlos
ideologisch eingfärbte Dogmen nachbeten als Fakten analysieren. Dabei würde
ein wenig gesunder Menschenverstand schon ausreichen, um zu erkennen, dass
nur einen grundsätzlichen Vorteil gegenüber einem Staatsunternehmen hat:
Es unterliegt weniger der Einmischung und Einflussnahme der Politik und kann
damit finanziell eigenständiger operieren und schneller auf die Bedürfnisse
des Marktes reagieren. Ebenso klar ist, dass jeder private Investor - im
Gegensatz zum Staat - einen Gewinn erwirtschaften will. Damit wird aber
das private Unternehmen aus der Sicht des Kunden teurer. Kompensieren kann
man das allenfalls auf dem Buckel der Angestellten, aber auf dieser Ebene
spielt ein funktionierender Markt - der Arbeitsmarkt.
Auch ein privatwirtschaftlich geführtes Unternehmen kann sich den
grundsätzlichen Rahmenbedingungen nicht entziehen: Wo aus politischen
Gründen für die Volkswirtschaft insgesamt nützliche Leistungen erbracht
werden müssen, die betriebswirtschaftlich nicht rentabel sind, da kommt
man um staatliche Ausgleichszahlungen nicht herum.
Heute ist die Eisenbahninfrastruktur in Grossbritannien in einem schlechteren
Zustand als vor der Privatisierung, während der Staat für weniger Gegenleistung
bedeutend mehr bezahlen muss.
Nach mehr als einem Jahrzehnt konkreter Erfahrungen mit verschiedenen Ansätzen zur
Bahnreform in Europa kann man ein klares Fazit ziehen: Der konsequente
Privatisierungansatz in Grossbritannien ist auf allen Ebenen kläglich gescheitert:
- Massive Verschlechterung der Sicherheit, Zunahme der Unfälle mit Todesfolge
- Massive Verschlechterung der Verfügbarkeit / Pünktlichkeit
- Massive Verschlechterung beim Kundenservice
- Höhere staatliche Subventionen für eine schlechtere Leistung
Leider sind die früher hier verlinkten kritischen Gedanken zur Bahnreform in
Grossbritannien von der ursprünglichen Website (litra.ch) gelöscht worden.
Allerdings ist der Zugriff bei web.webarchive.org immer noch möglich;
die amerikanische Archivierungssoftware tut sich allerdings mit den deutschen
Umlauten ziemlich schwer:
web.archive.org
- Attraktivität des öffentlichen Verkehrs
Wie kann der öffentliche Verkehr für die potenziellen Benutzer attraktiver gemacht
werden? Meist wird an erster Stelle der Preis genannt. Es ist zwar nicht zu bestreiten,
dass einzelne Fahrkarten in der Schweiz nicht gerade billig sind. Zudem haben
die mit staatlichen Beiträgen verbilligten Umweltabos (Jahresfahrkarten in einem
regionalen Tarifverbund)
eine grosse Beliebtheit erlangt. Trotz seiner weiten Verbreitung ist das
Preisargument jedoch nicht das wichtigste Argument, denn es lassen sich dagegen
genügend Gründe finden:
Wenn der Preis tatsächlich das wichtigste Argument wäre, gäbe es zumindest für
Bewohner der Städte und ihrer Agglomerationsgebiete im schweizerischen Mittelland
(Achse Bodensee - Genfersee) schon heute nur eine konsequente Strategie: auf ein
Auto verzichten und - abgestimmt auf die persönlichen Mobilitätsbedürfnisse -
das günstigste öV-Preismodell wählen. In der Maximalvariante (häufige Reisen
in der ganzen Schweiz) bedeutet dies ein Generalabonnement (2. Klasse CHF 3100,
1. Klasse CHF 4850, Stand Sommer 2008).
Nach Angaben der Automobilverbände kostet auch das billigste Auto alles inklusive
(Amortisierung, Versicherungen, Unterhalt, Benzin) monatlich mindestens 600 CHF,
im Jahr also 7200 CHF. Zu diesem Preis kann man zusätzlich zum GA also locker
noch einige Ausflüge mit dem Taxi oder mit einem Miet- oder Carsharing-Auto machen.
Ganz abgesehen davon dürfte wohl mehr als die Hälfte der Bevölkerung tatsächlich
mit einem regionalen Umweltabo und einem Halbtaxabo (2 Jahre für CHF 222) sowie
einigen Tageskarten und Einzelbilleten noch günstiger fahren.
Umgekehrt zeigt es sich immer wieder, dass der öffentliche Verkehr dort am häufigsten
benutzt wird, wo er Bequemlichkeitsvorteile gegenüber dem Individualverkehr bietet:
für Reisen zwischen Stadtzentren (z.B. Zürich - Bern), wenn die Parkplatzsuche
oder die bekannten Staus zu den Stosszeiten vorprogrammierten Ärger versprechen,
wenn die Reisezeit für die Zeitungslektüre oder zur Vorbereitung auf eine Sitzung
genutzt werden muss oder wenn man im Ausgang mehr als nur ein Glas Alkohol trinken
möchte.
- Taktfahrplan
Am 23. Mai 1982 hat die SBB den Taktfahrplan im nationalen Bahnverkehr eingeführt.
Hinter dem Taktfahrplan steht der Grundgedanke, den öffentlichen Verkehr für
den Kunden einfacher und damit attraktiver zu gestalten.
Der Taktfahrplan beruht auf zwei einfachen Prinzipien:
1. "Jede Stunde ein Zug"
2. "Takt-Symmetrie" des Fahrplans:
Wenn ein Zug in eine Richtung um x Minuten nach der vollen Stunde
abfährt, kommt der Zug aus dieser Richtung um x Minuten vor der vollen Stunde an.
So lassen sich die Abfahrtszeiten einfach merken. Für Ärger sorgen allenfalls
noch die Ausnahmen am frühen Morgen und späten Abend.
Mit der Einführung des Taktfahrplan hat die SBB vor mehr als 25 Jahren das Zugsangebot
um einen Schlag um 21% ausgeweitet. Die meisten Privatbahnen haben sich dem Prinzip
nach und nach angeschlossen. Der Erfolg des Taktfahrplans und die mit ihm eingeleitete
Renaissance des Personenverkehrs hat all jene eines Besseren belehrt,
die jahrzehntelang meinten, nur die Ausdünnung des Fahrplans in verkehrsschwachen
Stunden sei betriebswirtschaftlich verkraftbar. Das Gegenteil ist der Fall:
Wird dem Kunden mit komplizierten Fahrplänen oder auch Tarifstrukturen das Reisen
mit der Bahn erschwert, dann lässt er es lieber bleiben und nimmt das Auto.
Die Einführung des Taktfahrplans gilt heute als Meilenstein in der Geschichte des
Bahnreiseverkehrs und ist zweifellos der wichtigste Beitrag zur
Aufwertung des öffentlichen Verkehrs im letzten Vierteljahrhundert.
Auch ausländische Bahnunternehmen übernehmen die erfolgreiche Idee.
Wurden die Erfinder des Prinzips - damals junge Ingenieure der
Generaldirektion SBB - anfänglich noch despektierlich als "Spinnerclub"
bezeichnet, so gelten sie heute als weitblickende Visionäre.
- Tarifverbunde
Im Vergleich zu anderen Ländern erweist sich das System "eine Fahrt = ein Ticket"
(auch wenn dazu mehrere Verkehrsmittel benützt werden) als entscheidender Vorteil.
Auch in der Schweiz war die Zusammenarbeit beim Billetverkauf zwischen den
ursprünglich rein privaten Eisenbahngesellschaften nicht von Anfang an üblich,
man trug den teilweise erbitterten Konkurrenzkampf nicht zuletzt auf dem Buckel
der Kunden aus.
Mit der Einführung von regionalen Tarifverbunden und der Integration der meisten
städtischen Verkehrsbetriebe in den Gültigkeitsbereich des Generalabonnements ist
das Prinzip des durchgehenden Billets weiter ausgedehnt worden. Die Kunden freut's.
Ein Wermutstropfen, der die Freude trübt, ist der dem längst nicht mehr
zeitgemässen Kantönligeist zu verdankende
Bruch zwischen den einzelnen Tarifverbundsregionen.